Der Artikel erschien am 5.6. im RND
Heidi Reichinnek ist der Star der Linken - ihr hat die Partei ihre Auferstehung zu verdanken. Geboren im Land der Frühaufsteher, ist sie eher ein Brunch-Typ. Für unsere Reihe „Zu Tisch mit...“ redet sie in ihrem Osnabrücker Stammcafé über Heimat, Herausforderungen und wie es gelingen kann, gegen die AfD anzugehen.
Auch eine notorische Schnellsprecherin und Social-Media-Aktivistin wie Heidi Reichinnek braucht einen Rückzugsort von der hektischen Hauptstadt. Für sie ist es das Café „Gundolfs“ in ihrer Wahlheimat Osnabrück. Außen unscheinbar, drinnen urgemütlich. Reichinnek ist hier Stammgast, der Tisch bereits für sie gedeckt. Sie schüttelt ihren Schirm aus und sagt: „Wir teilen uns das große Frühstück, aber Sie müssen den Aufschnitt essen, ich bin Vegetarierin.“ Jeder nach seinen Bedürfnissen - so beginnt ein Gespräch über Genuss und Sozialismus.
Die Linken-Fraktionschefin ist nach ihrem Studium nach Niedersachsen zugewandert. Sie arbeitete hier in der kirchlichen Jugendhilfe und begann ihre politische Karriere im Stadtrat.
Zum Star der Schulhöfe war es da noch weit. Aber seit diesem Bundestagswahlkampf, ganz besonders seit dem 29. Januar im Bundestag, ist die 37-Jährige dieser Star geworden. Nachdem die Union erstmals einen Antrag mit der AfD durchbekommen hatte, trat Reichinnek ans Rednerpult. In der Hektik konnte sie ihre schnell hingekritzelten Notizen nicht mehr entziffern. Also trug sie den Text eines Kanons vor, der auf Anti-AfD-Demos gesungen wird: „Wehrt euch, leistet Widerstand gegen den Faschismus im Land. Auf die Barrikaden!“ Das Video der Rede wurde millionenfach abgerufen und Reichinnek hatte ihren Ruf als die rote Heidi weg.
Frau Reichinnek, Sie sind Niedersächsin mit Migrationshintergrund aus Sachsen-Anhalt. Bezeichnen Sie sich selbst als Ossi?
Heidi Reichinnek: Ich bin in Sachsen-Anhalt geboren und aufgewachsen, das hat mich geprägt. Meine Familie lebt noch da, ich treffe auch meine Freundinnen und Freunde von früher regelmäßig, zum Beispiel beim Osterfeuer. Dort groß geworden zu sein, hat mir ein besonderes Selbstbewusstsein und eine besondere Unabhängigkeit mitgegeben, lässt mich immer noch Ossi sein. Meine Eltern waren beide berufstätig, in der DDR war diese Art der Gleichberechtigung ja normal – natürlich auch, weil alle arbeiten mussten. Als ich dann im Westen, in Marburg studierte, kannten viele meiner Freunde nur, dass ihre Mütter zuhause geblieben sind – und damit auch nicht selbst abgesichert waren. Meine Familie hat mir den Rückhalt gegeben: Du kannst alles schaffen und du hast keine Rolle, die du ausfüllen musst. Und das hat mir nochmal mehr Mut gegeben.
Zur Linken gekommen sind Sie erst im Westen. Ihre Eltern hatten mit der SED und PDS nichts am Hut. Warum?
Heidi Reichinnek: Allein schon weil beide in der Kirche waren und religiös zu sein jetzt nicht unbedingt beliebt war in der DDR. Man hat sich mit dem System arrangiert, aber es nicht unterstützt. Dass die Linke immer wieder damit konfrontiert, wird Nachfolgerin der SED zu sein, verstehe ich – es hat diese Nachfolge in Form der PDS auch gebraucht. Aber die PDS hat ihre Geschichte nicht nur umfassend aufgearbeitet, sondern ist auch mit der westdeutsch geprägten WASG zur Linken geworden. Die Linke ist eine Partei mit Geschichte, aber vollkommen erneuert. Und für mich war und ist sie die einzige Partei, die mit meinen Werten übereinstimmt, deswegen bin ich damals eingetreten.
Wir reden in dieser Serie ja auch über Genuss. Was konsumiert man in der Clique an der Bushaltestelle Ihres Heimatdorfs Obhausen als Jugendliche?
Heidi Reichinnek: Zigaretten. Aber ich war da nie. Ich war zu uncool dafür. Ich war eher zu Hause und habe gelesen.
Finden Sie dafür heute noch die Zeit?
Heidi Reichinnek: Ja, ich habe immer ein Buch dabei. Gestern im Zug von Berlin nach Osnabrück wollte ich eigentlich eine Rede schreiben, aber dann habe ich lieber den Rechner zu- und ein Buch aufgeklappt. Das ist für mich der Ausgleich, das kann man ja überall machen. Derzeit lese ich von Annett Gröschner „Schwebende Lasten“. Gröschner erzählt die Lebensgeschichte einer Frau aus Magdeburg. Sie erlebt die NS-Zeit, den Krieg, die DDR – ein Beispiel von vielen für das Leben einer Frau Ende des 20. Jahrhunderts.
Reichinnek redet genauso schnell wie immer, nur unterbrochen vom Herantasten an Omelett und Brötchen. Aber es ist nicht nur die Geschwindigkeit, die den Zuhörer herausfordert, es ist der Redefluss, der Haupt- und Nebenwidersprüche anreißt und Assoziationsketten bildet.
Kommen wir zu anderen Substanzen: Reden Sie im Gegensatz zu Anderen eigentlich langsamer, wenn Sie gekifft haben?
Heidi Reichinnek: Das wäre mir nicht aufgefallen, dass das so ist.