Zum Hauptinhalt springen

Sozialstaatliches Wertesystem selber ist in Frage gestellt

Archiv Linksfraktion - Nachricht,

Antworten des Sachverständigen Professor Stephan Lessenich, Universität Jena, bei der öffentlichen Anhörung »Sanktionen« des Bundestagsusschusses Arbeit und Soziales am 6. Juni 2011

Abgeordnete Kipping (DIE LINKE): Meine Frage richtet sich an Herrn Prof. Dr. Lessenich. Es gibt kaum quantitative empirische Studien zur Wirkung von Sanktionen. Viele Argumente für Sanktionen basieren eher auf normativen Setzungen. Insofern geht auch meine Frage eher auf die normativen Setzungen. Es hat sich vor rund zwei Jahren ein sehr breites Bündnis für ein Sanktionsmoratorium gegründet, welches nicht nur von Vertreterinnen von SPD, LINKE. und Grünen unterzeichnet worden ist, sondern auch von Gewerkschaftern wie Frank Bsirske, von Künstlern wie Günter Grass. Was denken Sie ist ein Grund dafür, dass die Kritik an den Sanktionen so breit mobilisiert hat? An Sie persönlich die Frage: Sie haben sich auch für die Abschaffung der Sanktionen eingesetzt. Was war für Sie normativ ausschlaggebend?

Sachverständiger Prof. Dr. Lessenich: Es ist in der Tat so, dass hinter dieser Sitzung heute eine breite gesellschaftliche Bewegung steht, eine breite Koalition von Betroffenenverbänden, Fachpolitikerinnen aus parlamentarisch repräsentierten Parteien, Wissenschaftlerinnen und Einzelpersonen. Ich denke, so sollte es auch sein, dass solche Bewegungsinitiativen dann auch Repräsentation hier im Bundestag finden. Dass diese breite Bewegung zustande gekommen ist, hängt daran, dass mit der Sanktionsregelung ein Nerv des deutschen Sozialstaates bezeichnet ist. Nämlich die Frage der Bürgerrechte, der Menschenwürde, des sozialstaatlichen Wertesystems selber ist hier in Frage gestellt und muss heute auch zum Thema gemacht werden. Deswegen bedanke ich mich für die Ausrichtung der Frage auch, weil (…) man aus wissenschaftlicher Perspektive einfach kaum Befunde darüber hat, wie die Sanktionspraxis sich überhaupt im Alltag, im Kontakt der Behörden mit den Betroffenen vollzieht. Wir haben kaum quantitative noch gar qualitative Befunde darüber, wie sie wirken. Ob sie in der Richtung wirken, die auch intendiert ist, oder ob sie nicht sogar dysfunktionale Effekte haben.

Deswegen (…) möchte ich das auch gerne explizit machen, dass wir uns hier mit einer normativen Frage befassen. Nämlich mit der zentralen normativen Frage, wie eine wohlhabende Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. In einer Erwerbsgesellschaft – wie der unsrigen – sind die schwächsten Mitglieder in erster Linie erst einmal die Erwerbslosen. Hier ist die Frage: Welches Regime betreibt man im Umgang mit erwerbslosen Leistungsberechtigten? Ich denke, das muss zum Thema werden. Hinter den beiden Anträgen steht der begründete Zweifel - meines Erachtens -, dass das Regime, was gegenwärtig im Umgang mit Erwerbslosen und eben in Gestalt der Sanktionspraxis betrieben wird, dass das grundlegenden Anforderungen an einen zivilisationsangemessenen Umgang mit Erwerbslosen gerecht wird. Faktisch - und da schließe ich mich dem Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes an - spricht vieles dafür, dass eine Absenkung des Existenzminimums kaum verfassungsmäßig sein dürfte. Faktisch - auch eine Anmerkung zum Vertreter des Deutschen Vereins - ist das Zentralproblem, dass wir in dieser Sanktionspraxis sozusagen den nicht geringen Restbestand einer armenrechtlichen Tradition haben. Wir haben hier - finden hier - die Arbeitshaustraditionen des deutschen Sozialhilferechts wieder. Und es macht den Sachverhalt nicht besser, dass gesagt wird, schon im Bundessozialhilfegesetz alter Prägung waren entsprechende Verfahren und Maßgaben vorgesehen. Sondern wir haben es hier mit einem Restbestand, der nicht in die Moderne passt, von Arbeitshaustraditionen zu tun, wo die Hilfsbedürftigen bei Empfang der Hilfe dann auch auf Grundrechte, auf Bürgerrechte verzichten mussten. Ein zweites normatives Problem ist - das wurde hier mehrfach klar in den Stellungnahmen, die auch von Experten hier formuliert wurden, gesagt -, dass die Hilfsberechtigten in der Regel als Erziehungsbedürftige betrachtet werden, denen man mit entsprechenden Maßgaben zu begegnen hätte. Nicht nur die Jugendlichen, sondern die Erwachsenen gelten als Erziehungsbedürftige. Dabei ist sehr fraglich beispielsweise (…), ob für Personen, die man durch Sanktionsandrohung in ein Gespräch zwingt, in eine „Arbeitsgemeinschaft“, diese Arbeitsgemeinschaft tatsächlich den grundlegenden Anforderungen an eine symmetrische Auseinandersetzung zwischen „Klient“ und Behörde sachdienlich ist.

Meines Erachtens müsste diese Frage umkehrt angegangen werden. Es müssten die Rechte, die Berechtigungen der Bürgerinnen und Bürger als erwerbslose Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt stehen. Es müsste im Mittelpunkt stehen, was die Vereinten Nationen als Freiheit von Not und Freiheit von Angst reklamieren, Freiheit von materieller Not und Freiheit von politisch produzierter Angst. Wir haben es hier mit einem Abschreckungsregime zu tun. Es wurde auch schon vom Deutschen Gewerkschaftsbund angesprochen, in der Stellungnahme des Deutschen Vereins klingt es ähnlich an. Wir haben es hier mit einer Praxis zu tun, die offensichtlich hauptsächlich darauf angelegt ist, abzuschrecken, also vom Hilfeempfang schon a priori zu entbinden. Das ist auch der Punkt, wo diese Regelungen auch nicht nur normativ fragwürdig sind, sondern auch dysfunktional wirken, weil wir damit zu rechnen haben, dass nicht nur bei Jugendlichen der Kontakt mit den eigentlich als Integrationsagenturen bestimmten Instanzen abbricht und dass wir hier eine Bereinigung der Statistiken haben, aber de facto gerade das, was geleistet werden soll, nämlich Menschen wieder zurück in den Arbeitsmarkt zu bringen, gerade das verfehlt wird, und zwar systematisch.

… Beifall der Zuhörer …

Stv. Vorsitzender Straubinger: Keine Beifallskundgebungen und keine Missfallenskundgebungen.

Abgeordneter Birkwald (DIE LINKE): Meine Frage geht auch an Prof. Lessenich. Sie haben in Ihrer ersten Antwort auf den Begriff des Sozialstaates rekurriert. Deswegen möchte ich Sie ganz kurz fragen: Welches Sozialstaatsverständnis liegt dem bestehenden Sanktionsregime zugrunde und welches Sie dagegensetzen würden?

Sachverständiger Prof. Dr. Lessenich: Ich hatte schon angedeutet (…), dass das Sozialstaatsverständnis (…) eines ist, dem die Selbstbeschreibung dieses Sozialstaates häufig entgegenläuft. Was diese Praxis anzielt, ist angeblich ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Handeln der Arbeitsmarktakteure, der arbeitsuchenden Erwerbslosen. (…) Das Sanktionsregime gegenüber Erwerbslosen ist meines Erachtens der sichtbarste Ausdruck eines Sozialstaates, der sich als ein paternalistischer Erziehungsstaat versteht, der davon ausgeht, dass es Verhaltensprobleme der Arbeitsmarktakteure sind, die zu zentralen Problemen des Sozialstaates führen, dass es nicht nur Strukturprobleme sind, sondern das Fehlverhalten von Menschen und dass Menschen im Erwachsenenalter - Bürgerinnen und Bürger mit eigentlich politischen und sozialen Rechten - dazu gezwungen werden müssten, sich entsprechend einer angeblich richtigen Verhaltensweise auch auf dem Arbeitsmarkt zu gerieren. Insofern ist die Sanktionspraxis meines Erachtens und auch Stellungnahmen, die hier schriftlich abgegeben wurden, sprechend für einen aktivierenden Sozialstaat, der seine Bürger und Bürgerinnen nicht ernst nimmt, sondern sie eigentlich als Erziehungsbedürftige betrachtet.

Wenn ich die letzten zwei Minuten vielleicht noch darauf verwenden dürfte, dem entgegenzustellen, in welche Richtung eine sozialpolitische Praxis meines Erachtens gehen müsste, dann wäre es gerade das, die Bürger und Bürgerinnen in ihren Rechten und in ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung ernst zu nehmen und nicht mit der Androhung von Sanktionen zu glauben, bestimmte Probleme des Arbeitsmarktes oder des Sozialstaates und seiner Finanzierung zu lösen, sondern tatsächlich grundlegend einen bürgerrechtlichen, menschenrechtlichen und menschenwürdigen Zugang zur Gestaltung des Sozialstaates und beispielsweise seines Arbeitsmarktregimes zu finden und tatsächlich davon auszugehen, dass das Existenzminimum ein Bürgerrecht ist, das bedingungslos zu gewähren ist, das nicht unter die Androhung von Sanktionen bei Fehlverhalten gestellt werden darf. Es werden viele Sonntagsreden zur bürgerlichen Aktivgesellschaft und zur aktiven Bürgergesellschaft geführt. Aber an Werktagen geht man davon aus, dass die Bürger und Bürgerinnen nicht von selbst aktiv sind, sondern dass sie passiv sind, faul sind, gezwungen und getrieben werden müssen. Ich finde, das ist ein fundamentaler Widerspruch in der politischen Praxis, im politischen Umgang mit den Bürgern und Bürgerinnen. Hier wäre ein bürgerrechtlicher Zugang gefragt, der die Bürger und Bürgerinnen dieser Gesellschaft auch tatsächlich ernst nimmt.