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Bei Knuts wilden Brüdern

erschienen in Clara, Ausgabe 7,

Nirgendwo kommt man den »Herrschern der Arktis« so nah wie in Churchill,in der kanadischen Provinz Manitoba. Die Eisbären sind nicht erst seit Berlins Knuddel-Knut auch zum Symbol für den Klimawandel geworden.

Nach Churchill führt keine Straße, nur die Eisenbahn und das Flugzeug verbinden den kleinen Ort an der kanadischen Hudson Bay mit dem Rest der Welt. Dennoch zieht es Jahr für Jahr mehr Menschen dorthin. Denn ab Ende Oktober wird Churchill zum Sammelplatz für Eisbären, auf ihrer Wanderung in den Norden. Dann wird der Ort zur »Eisbärenhauptstadt der Welt«.
Bei aller Liebe, aber an eine Hauptstadt, gemeinhin eine Metropole mit mehr oder weniger Sehenswürdigkeiten, architektonisch herausragenden Bauten oder kulturellen Highlights erinnert hier rein gar nichts.

Etwa 800 Menschen leben in Churchill, es gibt eine einzige Straßenkreuzung, Handys funktionieren in dieser Gegend gar nicht. Trotzdem ist hier - buchstäblich - der Bär los. Jedenfalls für ein paar Wochen, wenn die Hudson Bay zufriert. Das Eis bringt Knuts große Brüder zu ihrer Hauptnahrungsquelle, den Robben im Meer. Doch die weltweite Klimaerwärmung hat auch hier schon deutliche Spuren hinterlassen. Prognostiziert wird ein Aussterben von zwei Drittel der weltweiten Eisbärenpopulation bis zum Jahr 2050.

Polar Bears International ist eine gemeinnützige Organisation, die sich in Zusammenarbeit mit führenden Wissenschaftlern auf der ganzen Welt für den Schutz und Erhalt der Eisbären einsetzt und das Jahr 2008 zum »Jahr des Eisbären« erklärt hat. Unlängst hat PBI einen Kongress in Churchill einberufen. Fast eine Woche lang gab es im Gemeindezentrum täglich Filmvorführungen und Vorträge von Polarforschern und Biologen. Bei minus 20 Grad draußen redeten sich die Teilnehmer drinnen die Köpfe heiß. Einig sind sich alle darin, dass die Hudson Bay immer später zufriert und den Eisbären immer weniger Zeit bleibt, um an ihre Hauptnahrungsquelle, die Robben im Meer, zu gelangen. Und ohne Eis kein Weg zum Futter für die Tiere. Der Weg zu den Eisbären hingegen ist noch einwandfrei befahrbar.
Tundra-Buggys heißen die weißen, speziell angefertigten panzerähnlichen Fahrzeuge, die die Besucher hinaus aufs offene Land bringen, um die Tiere aus nächster Nähe und vor allem sicher zu beobachten.
Bei strahlendem Sonnenschein geht es durch eine wenig verschneite Landschaft. Der Frost hat ihr ein hauchzartes Nachthemd übergezogen, in der Morgensonne glitzern die Eiskristalle auf den wenigen Bodenpflanzen und Sträuchern um die Wette.
Im Winter ist die kanadische Tundra eine unglaublich karge Gegend, unwirtlich und unwirklich, wenngleich von bizarrer Schönheit. Tundra und Taiga, das waren bisher Begriffe, die im Erdkundeunterricht normalerweise mit Robustheit assoziiert wurden, vor allem natürlich wegen der winterlichen Temperaturen. Hier macht das Ganze aber einen äußerst fragilen Eindruck.
Sechs Wagen sind an diesem Morgen unterwegs. Langsam schiebt sich unsere Buggy-Schlange in Richtung Hudson Bay. Die Fahrzeuge erinnern an einen futuristischen Krankentransport ins Quarantänelager, nach einer weltweiten Epidemie. Warum solche Endzeitfantasien, wenn man sich doch so auf die langersehnte Begegnung mit den Eisbären freut?! Das hat wohl etwas mit unserem Bewusstsein zu tun. Denn die Tiere sind eben vom Aussterben bedroht. Und diese theoretische, wissenschaftliche Erkenntnis wird für den Besucher durch die Nähe zu den Tieren hier im wahrsten Sinne des Wortes emotional »erfahrbar«.

Nach anderthalb Stunden sehen wir die ersten beiden Eisbären. Zwei Jungspunde kabbeln sich miteinander. Dabei stellen sie sich immer wieder auf ihre Hinterbeine und prallen mit ihren Pranken aneinander. Das hat nichts mehr mit den Bildern vom knuddeligen Knut oder Flocke zu tun, hat aber etwas geradezu Majestätisches.

Erst kommt das Fressen, dann die Moral

Für die Bewohner und Besucher von Churchill jedoch auch etwas Bedrohliches. Denn der Ort liegt nun mal genau auf dem Weg zur Hudson Bay. Und wo Menschen sind, da riecht es nach Futter. Demzufolge kommen häufig hungrige Tiere in deren Nähe. Und so dicht dran sein, das wollen dann doch die wenigsten. Wenn das geschieht, ist die Bärenpolizei - meistens jedenfalls - sofort zur Stelle. Während der Saison patrouillieren immer mehrere Polizeifahrzeuge, und wenn ein sogenannter »Problembär« gesichtet wird, werden zunächst ein paar »Cracker-Shots« abgegeben. Wenn das laute Geräusch nichts hilft, kommen Gummigeschosse zum Einsatz. Danach wird das schwerste Geschütz aufgefahren, sie werden betäubt und ins Bärengefängnis gesteckt.
24 Zellen gibt es dort - und für ihre Insassen nur noch Wasser und kein Brot. In den ersten Jahren wurden die Sträflinge nämlich auch gefüttert. Mit dem Resultat, dass sie im nächsten Jahr zurückkamen und - vergleichsweise häftlingsuntypisch - in das Gefängnis einbrachen. Das Fressen kommt bekanntermaßen vor der Moral.

Der Resozialisierungsprozess ist vergleichsweise einfach. Nach einer gewissen Zeit werden die Tiere wiederum betäubt, und mit Helikoptern etwa 50-100 Kilometer nördlich transportiert. Bis zu einer Tonne können die Tiere wiegen, an dem Helikopter hängend sehen sie aus wie überdimensionale, ausgefranste Marshmallows im Einkaufsnetz.

Hybrid ist »in«, in Hollywood

Robert Buchanan, Vorsitzender von Polar Bears International, ist kein überschwänglicher Mensch, weder im positiven noch im negativen Sinne. Er verfügt über so etwas wie einen bodenständigen Realismuss, gepaart mit einem gesunden Optimismus - eine überzeugende Kombination, wenn es um Klimafragen geht: »Dieser Planet existiert seit viereinhalb Milliarden Jahren, und er wird wahrscheinlich auch noch gute zehn weitere schaffen. In der Vergangenheit sind gut 99% aller Arten ausgestorben. Das sind schlichte Fakten. Die Frage ist also, ob wir als Gattung Mensch auch vom Aussterben bedroht sind und wenn ja, ob wir in unserer Situation klug genug sind, etwas dagegen zu tun. Wir von Polar Bears International glauben daran. Und es gibt ja auch positive Beispiele dafür, dass wir Arten gerettet haben. Wir müssen nur richtig motiviert sein, das Problem zu lösen.«
Ein Besuch in Churchill ist dafür hervorragend geeignet. Carol Mayden aus Los Angeles ist mit ihrem achtjährigen Sohn Gavin angereist, damit er die Eisbären noch in natura sieht - bevor es sie nicht mehr gibt. Bisher hielt die sympathische Sozialarbeiterin sich schon für ziemlich umweltbewusst, jetzt weiß sie, dass ihr nächstes Auto auf jeden Fall eines mit Hybridantrieb sein wird.