Liebe Astrid Wörn,
Ihre Gedanken haben mich zum einen sehr berührt und zum anderen an mein eigenes Leben zu diesem Thema erinnert. Dieses Gesetz, benannt nach jenem Mann, der nie die sozialen Niederungen unserer Gesellschaft spüren musste, änderte das Gesicht unseres Landes. Der Staat hat noch nie so drastisch in die Biografien hunderttausender Menschen zu deren Nachteil eingegriffen und viele Lebensplanungen vor allem für junge Bürgerinnen und Bürger zunichte gemacht. Hartz IV ist und bleibt Armut und Ausgrenzung per Gesetz. Man
lenke nur mal den Blick auf die Zusammensetzung der Hartz-Kommission von 2002. Hier findet sich neben
Peter Hartz, ehemaliges Mitglied des Vorstandes der Volkswagen AG, ein Mitglied des Vorstandes der
DaimlerChrysler Services AG und der Deutschen Bahn AG, ein Abteilungsleiter Personal Deutsche Bank AG
oder ein Direktor der McKinsey & Company Düsseldorf. Die Auswahl der Mitglieder sagt viel über das Anliegen, das hinter den Hartz-Gesetzen steckt. Vertreterinnen oder Vertreter von Erwerbsloseninitiativen sind nicht
in diesem Gremium vertreten. Gerade mal eine Frau war beteiligt. 13 der 15 Mitglieder stammen aus den Altbundes-ländern und gehören vornehmlich zu den Repräsentanten der deutschen Wirtschaftselite.
Die politischen Initiatoren sitzen in den Reihen der sogenannten Sozialdemokraten. Warnungen von sozialen Bewegungen und Sozialverbänden wurden ignoriert, Proteste vom Basta-Kanzler Schröder ausgesessen.
Die Regierung aus SPD und Grünen schaffte Strukturen, die sie alsbald selbst nicht mehr überblickte oder
steuern konnte bzw. wollte. Aus »Fordern und Fördern« wurde sehr schnell »Beschränken und Wegnehmen«
durch Behördenwillkür, bürokratisches Dickicht und Schreibtisch-entscheidungen ins soziale Abseits. Wir bekamen prekäre Beschäftigung und ständige Lohndrückerei. Hungerlöhnen, zum Beispiel bei der Leiharbeit, stehen astronomische Managergehälter gegenüber. Soziale Kontakte verkümmern, zuweilen wird man noch mitleidig
von der Seite angeschaut oder gar als Sozialschmarotzer beschimpft. All das kenne ich aus eigenem Erleben. Arbeitszwang, das bedeutet keine Rücksicht auf individuelle Eignung und Neigung: Sofort ist der Regelsatz gekürzt. Sozialschnüffler in der Wohnung, Betroffene stehen unter Generalverdacht. Die ständige Existenzangst: Wie bringe ich meine Kinder, meine Familie und mich selbst durch? Kurz: Entwürdigung und Armut pur! So sieht es aus, das Leben mit Hartz IV. So geht der Staat mit Millionen seiner Bürgerinnen und Bürger um. In Armut zu leben, hat Auswirkungen auf die Gesundheit, auf den Zugang zu Bildung oder Ehrenamt, auf Teilnahme am gesellschaftlichen Alltag, ohne sich schämen zu müssen. Pünktlich vor anstehenden Wahlen entdecken die Hartz-IV-Parteien ihr Fläschchen, aus dem sie ein paar soziale Tröpfchen anbieten. Und dies zumeist widerwillig und nur auf Druck
der LINKEN sowie der außerparlamentarischen Bewegungen. Ohne die Fraktion DIE LINKE wären Themen wie Mindestlohn, Verlängerung des ALG I oder Kinderarmut niemals auf der politischen Agenda erschienen.
Wenn es aber nicht bald einen wirklichen, ernstgemeinten Kurswechsel in der Politik gibt, sehe ich den sozialen Frieden in Gefahr. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die soziale Kälte nimmt
zu. Ich denke, dass eine Zukunft ohne größere Sorgen, Nöte und Elend für alle Menschen möglich ist. Dafür stehe ich, steht DIE LINKE. Für eine solidarische Gesellschaft engagieren wir uns parlamentarisch und vor Ort bei den Betroffenen. Wir fordern eine repressionsfreie, bedarfsorientierte soziale Grundsicherung. Unverzüglich muss
das ALG II auf wenigstens 435 Euro angehoben werden. Ganz konkret setzen wir uns zum Beispiel dafür ein, dass bei Krankenhausaufenthalten die Regelleistung nicht gekürzt wird. Wir sind ferner für die Nichtan-rechnung des Pflegegeldes auf die Leistungen für die Bedarfsgemeinschaft. Eine Kindergrundsicherung in Höhe von 420 Euro muss eingeführt werden. Weiter fordern wir Arbeitszeitverkürzung sowie einen Mindestlohn von 8,44 Euro.
Diese Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen.
Liebe Frau Wörn, für Sie gab es ein Leben vor Hartz IV und ich drücke nicht nur die Daumen, sondern bin
sicher, dass es auch wieder eines nach Hartz IV geben wird. Das Ziel ist aber klar: Die mit Hartz IV begonnene Umverteilungs- und Verarmungspolitik muss gestoppt werden. Das schaffen wir nur gemeinsam.
Ihre
Elke Reinke

Brief von Elke Reinke an Astrid Wörn
erschienen in Clara,
Ausgabe 7,