Der Zuspruch zur bundesdeutschen Demokratie ist noch weiter gesunken als vordem: im Westen auf unter 70 Prozent und im Osten auf unter 40 Prozent. Unter der Bundestagskuppel müssten eigentlich die Alarmglocken läuten; denn das ist ein riesiges Einfallstor für Neonazis aller Schattierungen.
Petra Pau äußerte sich in der Aktuellen Stunde zu den Wahlergebnissen der NPD in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In Berlin wurde ein Wahlkampfhelfer der SPD von Neonazis krankenhausreif geprügelt. In den Schweriner Landtag zog die rechtsextremistische NPD mit über 7 Prozent Zuspruch ein. In Delmenhorst kämpft eine engagierte Bürgerschaft seit Wochen dagegen, dass dort ein Schulungszentrum für Nazikader entsteht.
Allein diese drei Vorfälle könnten diese Aktuelle Stunde begründen. Aber genau das ist nicht das Anliegen der Fraktion Die Linke. Unser Befund geht weiter und damit auch unser Anliegen. Der Bundestag muss sich dem Rechtsextremismus gründlich und systematisch zuwenden - und nicht nur, wenn Schlagzeilen durch die Medien geistern. Darum geht es mir.
Seit Jahren fragen wir Monat für Monat nach den rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten, die beim Bundesinnenministerium registriert werden. Der Befund ist: Stündlich werden im Bundesschnitt drei rechtsextremistische Straftaten und täglich werden drei rechtsextremistische Gewalttaten erfasst. Die reale Zahl ist weit höher, die Dunkelziffer ohnehin.
Entsprechend groß ist die Zahl der Opfer, die aus na-tionalistischen, rassistischen oder antisemitischen Motiven bedroht und geschlagen, körperlich oder geistig verkrüppelt werden.
Rechtsextremismus ist also längst keine Randfrage, sondern ein Alltagsproblem und in seiner gewaltsamsten Ausprägung auch eine tödliche Gefahr. Gemessen daran finde ich es geradezu fahrlässig, dass der Bundestag in den zurückliegenden Jahren der Komplexität dieser Herausforderung ausgewichen ist. Das Wenige, was versucht wurde, erschöpfte sich oft in Symbolhandlungen, wie einem partiellen Versammlungsverbot, oder wurde peinlich in den Sand gesetzt, wie das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren.
Ich möchte etwas anderes und schlage vor, dass wir die Debatte heute als Auftakt nehmen, endlich tiefer gehende und langfristige Strategien zu erarbeiten, um den Rechtsextremismus zu bannen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das wiederum geht nur parteiübergreifend und ressort-übergreifend. Es geht nur mit gebündeltem Sach- und Fachverstand. Es geht nur, wenn wir den Blick mitten in die Gesellschaft und auf das ganze Spektrum der Politik richten.
In der vergangenen Woche wurden aktuelle Ergebnisse einer Langzeituntersuchung veröffentlicht. Demnach ist der Zuspruch zur bundesdeutschen Demokratie noch weiter gesunken als vordem: im Westen auf unter 70 Prozent und im Osten - das ist aus meiner Sicht alarmierend - auf unter 40 Prozent. Unter unserer Bundestagskuppel müssten eigentlich die Alarmglocken läuten; denn das ist ein riesiges Einfallstor für Neonazis aller Schattierungen. Wir sollten daher weniger darüber diskutieren, warum Neonazis so agieren, wie sie agieren. Wir müssen endlich gründlicher darüber debattieren, was diese Demokratieverdrossenheit fördert und was dagegen hilft.
Immer mehr Menschen fühlen sich sozial abgehängt, nicht gebraucht, nicht gefragt. Sie fühlen das nicht nur; sie erleben das auch so. Damit meine ich nicht nur diejenigen, die schon morgens mit ihrer Büchse Bier lauthals über starke Männer und vermeintlich bessere Zeiten philosophieren. Seriöse Untersuchungen belegen: Die sozialen Anfälligkeiten für rechtsextremistische Parolen greifen vor allem bei jenen, die engagiert nach Zukunft streben, sich aber zugleich davor fürchten, Verlierer der Globalisierung zu werden. Das wiederum ist die Mitte der Gesellschaft.
Auch deshalb ärgert es mich, wenn das Thema Rechtsextremismus vorwiegend im Ressort Innenpolitik angesiedelt wird, garniert mit Appellen an Elternhaus und Schule. Natürlich muss auch dort mehr getan werden. Aber die Generalschlüssel liegen an ganz anderer Stelle: zum Beispiel in der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik.
(Beifall bei der LINKEN)
Dort werden die großen Gerechtigkeitsfragen entschieden. Es ist unredlich, wenn die Bundespolitik von den Kommunen mehr Freizeitangebote für Jugendliche fordert und zugleich Länder und Kommunen durch die eigene Politik finanziell austrocknet.
Geradezu ein Trauerspiel ist der Streit um die akut gefährdeten Projekte für mehr Demokratie und Toleranz wie CIVITAS, die mobilen Beratungsteams gegen Rechts-extremismus und die Opferhilfe. Sie leisten vor Ort eine unverzichtbare Arbeit und sollen nun doch abgewickelt werden. Mit Vernunft und mit Logik hat das nichts zu tun, zumal meine Erfahrung sagt: Jedes dieser Teams weiß mehr über den grassierenden Rechtsextremismus als der gesamte Bundestag. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter bewirkt real mehr gegen Rechtsextremismus und Rassismus als jede symbolische Bundestagsdebatte.
(Beifall bei der LINKEN)