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Nach dem Herbst der Reformen folgt der Winter des Stillstands

Rede von Ines Schwerdtner,

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besuchergruppen! Bevor wir hier über Milliarden sprechen, will ich von einem Gespräch erzählen: Eine alleinerziehende Mutter sitzt in meiner Sozialsprechstunde in Lichtenberg und beginnt, zu weinen; es geht um die Krankenkassenbeiträge. Ein anderer Mann erzählt zitternd vom Jobcenter und seiner Angst vor den Sanktionen, weil er psychisch krank ist. Dieser Haushalt entscheidet über genau diese alltägliche Angst. Er entscheidet darüber, ob eine Mutter die kaputte Waschmaschine ersetzen kann, ob es an Weihnachten noch für ein Geschenk für die Kinder reicht.

Wir reden hier immer von „Haushalt“, als wäre das ein technisches Dokument. Aber das ist es nicht. Ein Haushalt ist ein moralischer Text. Er zeigt, wessen Leben Priorität hat und wessen Leben als nachrangig behandelt wird. Und er ist zutiefst politisch. Jede einzelne Zeile ist eine Entscheidung darüber, wem wir Sicherheit geben und wen wir im Regen stehen lassen.

Und schauen wir uns ehrlich an, was in diesem Land als unantastbar gilt: Milliarden für Panzer und neue Rüstungsprogramme, großzügige Steuererleichterungen für Konzerne, Steuerprivilegien für die Superreichen. Und was gilt als verhandelbar? Die Bildung unserer Kinder, die Infrastruktur unserer Kommunen, Pflege, Wohnen – die Grundlagen eines würdevollen Lebens. Ihr Haushalt zeigt nicht, was Sie sich leisten können – er zeigt, was Sie sich leisten wollen.

(Beifall bei der Linken)

Und er zeigt vor allem, wen Sie bereit sind zu opfern. Und wenn wir verstehen wollen, warum diese Prioritäten so gesetzt werden, dann müssen wir uns anschauen, wie dieser Haushalt zustande kommt – in der finalen Haushaltssitzung zum Beispiel: Sie findet dann statt, wenn die meisten Menschen in diesem Land schlafen oder schon wieder aufstehen müssen, um ihre Schicht zu beginnen.

An dieser Stelle möchte ich mich wie die anderen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich die Nacht und viele Tage davor mit diesem Haushalt rumgeschlagen haben, herzlich bedanken. Vielen herzlichen Dank!

(Beifall bei der Linken sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine folgende Kritik richtet sich ausdrücklich nicht an sie, sondern an Sie, die Koalition. Sie drücken knapp 525 Milliarden Euro in einer Nacht durch – und tun so, als wäre das normal. Nachts um vier, wenn niemand mehr richtig versteht, worüber wir überhaupt entscheiden; alle müde.

(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ich war nie müde!)

Aber genau das ist der Punkt: Es ist eine Machtdemonstration. Sie zeigen, dass Sie es können – und dass die Öffentlichkeit draußen bleiben soll. Und mitten in dieser Sitzung kommt dann plötzlich ein neuer Antrag im Etat des Bundeskanzleramts, beim Kulturstaatsminister Weimer. Perfektes Timing für Dinge, die keiner merken soll. Im Kleingedruckten stehen dann 2 Millionen Euro für ein Künstlerdorf in Schöppingen. Nicht irgendeins, sondern genau im Wahlkreis von Jens Spahn.

(Heidi Reichinnek [Die Linke]: Nein! – Sören Pellmann [Die Linke]: Alles Zufall! – Weitere Zurufe von der Linken)

Ein Projekt, das von der früheren Staatsministerin und CDU-Parteigröße Monika Grütters geführt wird,

(Dr. Michael Espendiller [AfD]: Und, haben Sie zugestimmt?)

also ein Paradebeispiel für funktionierende CDU-Netzwerke. So ein Zufall! Dieselben Netzwerke, die Millionen für Prestigeprojekte finden, aber nicht für die „Zukunftswerkstatt Schwein“. Liebe geht raus an mein Patenschwein Borsti!

(Beifall bei der Linken sowie der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heidi Reichinnek [Die Linke]: „Borsti“! – Tino Chrupalla [AfD]: Das essen wir auch noch!)

Damit eins klar ist – ich will nicht für Missverständnisse sorgen –: Wir sind nicht gegen Kultur, wir sind auch nicht gegen dieses Kulturprojekt.

(Dr. Thorsten Rudolph [SPD]: Nachmittags um 16 Uhr beraten! Falsche Geschichte!)

Im Gegenteil: Kunst braucht Förderung, und dafür setzen wir uns ein. Aber ich sage Ihnen, was mich daran stört. Mich stört, dass Sie hier von Verantwortung sprechen und dann so eine Nummer abziehen.

(Dr. Thorsten Rudolph [SPD]: 16 Uhr nachmittags!)

– Ja, die Sitzung hat begonnen, und der Antrag kam rein. Wir können das gerne alle noch mal nachprüfen.

(Dr. Thorsten Rudolph [SPD]: Um 16 Uhr, nicht mitten in der Nacht, wie Sie erzählt haben! Falsche Geschichte! Fake News!)

– Ja, und trotzdem kam der Antrag, nachdem die Sitzung bereits begonnen hatte. Es war keine Zeit mehr, überhaupt die Anträge zu lesen.

Letzte Woche war ich in Karlsruhe. Die Stadt muss die nächsten beiden Jahre jeweils 80 Millionen Euro kürzen. Von dem als Wundermittel angepriesenen Sondervermögen kommt dort – Überraschung! – gar nichts an. Die Stadt kürzt an allen Ecken und Enden und schließt 80 Spielplätze, um 5 000 Euro pro Jahr zu sparen. Das müssen Sie sich auf der Zunge zergehen lassen: 80 Spielplätze werden in den nächsten Jahren dichtgemacht, weil sie nicht gewartet werden können, um 5 000 Euro zu sparen. Und wir schieben an einem Nachmittag 2 Millionen Euro mal spontan über den Tisch, weil es jemand von der CDU so wollte. Das erklären Sie mal den Familien in Karlsruhe!

(Beifall bei der Linken)

Es sind genau diese Momente, in denen die Menschen das Vertrauen verlieren – weil es so aussieht, als gäbe es zwei Klassen von politischen Vorhaben: die der Menschen mit Einfluss und die der Mehrheit. Und dann stellen Sie, Herr Spahn – Sie sind jetzt nicht hier; ich sage es trotzdem –, sich in der Generaldebatte hierhin und reden von Verantwortungsethik gegenüber dem Land. Aber was heißt das in der Praxis? Übernehmen Sie Verantwortung für die Milliarden, die Sie mit Ihren Maskendeals versenkt haben? Ausgerechnet Sie?

(Beifall der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ja.

(Dr. Michael Espendiller [AfD]: Da ist auch noch eine aus der AfD!)

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ist Ihnen bekannt, dass Baden-Württemberg einen sehr kommunalfreundlichen Übertrag bei den Mitteln des Sondervermögens beschlossen hat und die Stadt Karlsruhe 204 Millionen Euro vom Land erhält? Es gab ja leider keine Zusätzlichkeitsvoraussetzungen, und es gab auch keine Mindestquote; aber Baden-Württemberg übergibt fast 70 Prozent der Mittel unmittelbar an die Kommunen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der Linken)

Vielen Dank für die Nachfrage, Herr Kollege. – Das ist mir wohlbekannt.

(Dr. Inge Gräßle [CDU/CSU]: Sie waren gerade so schön in Fahrt!)

Trotzdem: Ich war gerade in Karlsruhe, wo die drei Gemeinderäte der Linken davon berichteten, wie in der Gemeinderatssitzung genau dieser Kürzungshaushalt jetzt beschlossen wird. Wann das Geld genau ankommt, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß aber, dass es eine große Bewegung, eine Demonstration gegen diesen Kürzungshaushalt gibt. Ich hoffe, dass es wieder zurückgenommen wird. Ich hoffe, dass die Menschen auf die Straße gehen, um zu zeigen: Diese Spielplätze könnt ihr nicht haben.

Das Sondervermögen muss bei den Menschen ankommen; das haben wir immer gesagt. Trotzdem ist es falsch, das zu verschweigen.

(Beifall bei der Linken)

Ja, bitte.

(Zuruf von der AfD: Respekt!)

Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. Frau Schwerdtner, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben viel über Haushalt und über Moral gesprochen. Am Wochenende kommt es jetzt zu einer besonders amoralischen Belastung des Bundeshaushaltes,

(Zuruf von der Linken)

unter anderem auch durch einen Großeinsatz der Bundespolizei in Gießen, da sie dort kriegsähnliche Zustände erwartet.

(Lachen bei Abgeordneten der Linken – Zurufe von der Linken)

– Das finden Sie vielleicht witzig.

(Sören Pellmann [Die Linke]: Trennt euch doch von den Faschisten!)

Die Leute wurden aufgefordert, Sonderblutkonserven zu spenden, und es wurden Sonderintensivbetten aufgebaut, weil man eben kriegsähnliche Zustände erwartet. Die Stadt wird komplett abgeriegelt. Hotelbetriebe, generell Betriebe, stellen ihren Betrieb ein und rammeln ihre Fensterscheiben zu.

Ihre Fraktion hat diese Woche mehrfach dazu aufgerufen, sich daran zu beteiligen.

(Beifall bei der Linken – Sören Pellmann [Die Linke]: Zu Recht! Zu Recht! – Peter Boehringer [AfD]: Wahnsinn!)

Sie ruft auch regelmäßig „Alerta, alerta Antifacista!“. Ich will Ihnen aber jetzt hier noch mal die Gelegenheit geben, sich ganz eindeutig von Gewalt und auch von Gewalt gegen Polizisten zu distanzieren –

(Zurufe von der SPD und der Linken)

das schaffen Ihre Fraktionskollegen nicht immer –, um auch an dieser Stelle den Bundeshaushalt zu schonen, der dadurch, dass Ihre Freunde dahin fahren und sich wahrscheinlich nicht an die Anweisungen der Polizei halten, wieder sehr stark belastet werden wird.

(Zurufe von der SPD und der Linken)

Deswegen gebe ich Ihnen hier die Chance, den Haushalt insofern zu entlasten, als Sie Ihre Freunde dazu aufrufen, sich am Wochenende friedlich zu verhalten. Und da wollte ich Sie fragen, ob Sie das tun würden. – Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD – Zurufe von der SPD und der Linken)

Das hat zwar jetzt unmittelbar nichts mit diesem Haushalt zu tun,

(Zurufe der Abg. Stephan Brandner [AfD] und Dr. Michael Espendiller [AfD])

trotzdem möchte ich gerne antworten, dass es das Recht ist, friedlich zu demonstrieren, friedlich zu protestieren gegen die Gründung eines Jugendverbandes einer Partei, von der Teile als gesichert rechtsextrem gelten.

(Beifall bei der Linken, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch dieser Jugendverband wird vermutlich genauso viel menschenverachtendes, genauso viel schreckliches und genauso viel gewaltbereites Potenzial haben wie der Jugendverband davor. Deswegen finde ich es richtig, dagegen zu protestieren.

(Beifall bei der Linken sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Carsten Brodesser [CDU/CSU])

Ich fahre fort. Wenn Sie hier also gemeinsam Haushalte beschließen, die die Mehrheit verunsichern, dann stärken Sie damit am Ende genau jene Kräfte, von denen Sie behaupten, sie aufhalten zu wollen. Wer immer nur unten kürzt und die Reichen verschont, baut keine Brandmauer gegen rechts, er baut eine Startrampe. Für die Mutter in meiner Sozialsprechstunde ist es nämlich egal, ob die Kürzung bei der Sozialarbeit von Herrn Merz oder von Herrn Klingbeil kommt. Für die Gemeinde ist auch egal, welche Parteifarbe im Kanzleramt hängt, wenn sie am Ende denselben Kürzungsbrief aus Berlin bekommt.

Ja, es ist richtig und notwendig, der AfD und ihrem Menschenhass, auch bei ihrem Jugendverband, klar entgegenzutreten. Aber Demokratie sollte mehr sein, als gegen die AfD zu sein.

(Stephan Brandner [AfD]: Ja, da haben Sie recht! – Zuruf des Abg. Dr. Michael Espendiller [AfD])

Echte Demokratie heißt: Die Prioritäten der Mehrheit stehen an erster Stelle, die Prioritäten der Menschen, die jeden Tag den Reichtum dieses Landes schaffen,

(Beifall bei der Linken)

und nicht die Sonderinteressen Ihrer gierigen reichen Freunde, die die politische Macht in ihren Händen konzentrieren.

(Beifall bei der Linken)

Wenn Ihnen eine funktionierende Demokratie wirklich wichtig wäre, dann würden wir nicht um drei Uhr morgens über Dinge entscheiden, die Millionen Menschen betreffen. Dann würden wir solche Sitzungen öffentlich abhalten, vor den Augen der Menschen, die am Ende die Rechnung bezahlen müssen.

(Zuruf der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Dann würden diese Menschen mitentscheiden.

(Beifall bei der Linken – Zuruf der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])

Echte Verantwortung würde heißen, die Milliardäre in die Pflicht zu nehmen, eine Vermögensteuer einzuführen, Rekordgewinne der Rüstungskonzerne richtig zu besteuern, große Erbschaften endlich anzutasten. Echte Verantwortung heißt, nicht Hunderte Milliarden in Aufrüstung zu stecken, während unsere Nachbarn aus ihren Wohnungen gedrängt werden. Echte Verantwortung heißt, dieses Geld in das zu investieren, was ein Land wirklich trägt: bezahlbaren Wohnraum, gute Schulen, funktionierende Kitas, Pflege und starke Kommunen. Dafür steht Die Linke.

(Beifall bei der Linken)

Ich bin nicht in dieses Parlament gewählt worden, um brav eine Schuldenbremse zu verwalten, die das Leben der Menschen härter macht. Ich bin hier, weil Millionen jeden Monat an ihre Grenzen stoßen – an die Grenzen ihres Kontostands, ihrer Zeit, ihrer Kraft und ihrer Geduld. Ich habe mein Mandat nicht von den Immobilienkonzernen.

(Florian Oßner [CDU/CSU]: Mein Gott!)

Ich habe es von Menschen, die jeden Tag ehrlich kämpfen. Und genau dieses Mandat verpflichtet mich, klar zu sagen, was so viele hier bereits wissen: Dieses Land ist reich genug – reich genug, dass niemand Angst haben müsste, reich genug, dass niemand zwischen Miete, Essen und Heizung wählen müsste, reich genug, dass niemand drei Jobs braucht, um über die Runden zu kommen.

(Zuruf von der AfD)

Die Wahrheit ist: Es fehlt nicht an Geld. Es fehlt am Willen, nach oben zu greifen und nicht weiter nach unten zu treten.

(Beifall bei der Linken – Zuruf von der Linken: Hört! Hört!)

Genau deshalb sage ich Ihnen ohne Umschweife: Auf welcher Seite Sie, Herr Merz, Herr Klingbeil, und alle anderen tatsächlich stehen, erkennt man nicht an dem, was Sie hier sagen, sondern an dem, was Sie hier beschließen.

(Dr. Inge Gräßle [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht!)

Und wenn wir darüber reden, auf wessen Seite Sie stehen, dann schauen wir uns doch auch mal die Parteitage von Ihnen allen an. CDU, CSU, SPD und Grüne – bei Ihnen sieht man auf den ersten Blick, wie Sie die Demokratie verstehen. Denn bei Ihnen entscheidet nicht, wer am meisten von Politik betroffen ist. Bei Ihnen entscheidet, wer am meisten zahlt. Sie lassen sich vom reichsten Deutschen, dem Milliardär Schwarz, sponsern –

(Widerspruch der Abg. Bettina Hagedorn [SPD] – Zurufe von der CDU/CSU)

einem Mann, der mehr besitzt als 5 Millionen Menschen in diesem Land zusammen. Sie lassen sich von Amazon, von der Deutschen Bank, Bayer, Energiekonzernen und der Auto- und Immobilienlobby gleich ganze Parteitage schmücken.

(Zuruf des Abg. Florian Oßner [CDU/CSU])

Das ist ein politisches System, in dem Geld mehr Gewicht hat als demokratische Stimmen. Und das sieht man an Ihrer Politik.

(Beifall bei der Linken – Widerspruch bei der SPD)

Genau deshalb nehmen wir keine Unternehmensspenden an. Wer vom reichsten Mann Deutschlands finanziert wird, der macht keine Politik für die alleinerziehende Mutter in Lichtenberg, sondern für diejenigen, die an ihr verdienen.

Und genau deshalb ist Ihr Gerede von funktionsfähiger Demokratie so hohl; denn in Wahrheit fürchten Sie sich vor echter Demokratie. Sie fürchten sich vor einer Demokratie, in der die Menschen selbst entscheiden, wohin das Geld geht. Und wenn diese Mehrheit ihre eigene Stärke nutzt, dann ist sie mächtiger als Ihre Netzwerke und Ihre Geldgeber. Dann holen sich die Menschen das zurück, was ihnen zusteht: ihre Zeit, ihre Löhne, ihre Wohnung und ihre Demokratie.

(Stephan Brandner [AfD]: Hört sich wie Klassenkampf an!)

Und genau davor sollten Sie Angst haben.

(Beifall bei der Linken)