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Zeitsouveränität verlangt konkrete Maßnahmen statt Beschwörungsformeln

Archiv Linksfraktion - Rede von Cornelia Möhring,

Rede von Cornelia Möhring, LINKE, zu TOP 12 – Chancengleichheit für Frauen und Männer – in der 21. Plenarsitzung am 14. März 2014

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

 

Für die, die den Antrag, den wir hier diskutieren, nicht vorliegen haben: Er trägt den Titel „Mehr Zeitsouveränität - Neue Wege für gleiche Chancen für Frauen und Männer“. Ich finde diesen Titel wirklich schön; aber ich habe mich gefragt, warum so ein langer Antrag so wenig neue Wege. Ich vermute, es liegt daran, dass sich die Große Koalition nicht auf viel Konkretes einigen kann. Auch Punkt 8 des Antrages, die angekündigte Anhebung des steuerlichen Entlastungsbetrages für Alleinerziehende, ist - das haben wir heute morgen bei einer Anfrage der Linken gehört - erst einmal verschoben. Vielleicht haben Sie deshalb wirklich alles, was Sie zwischen Frauentag und Equal Pay Day einmal sagen möchten, in diesen Schaufensterantrag gepackt.

In dem Maßnahmen des Antrags heißt es wenig konkret: „einen …Bericht vorzulegen“, „der Ressource Zeit mehr Aufmerksamkeit zu widmen“, „die Daten … auszuwerten und … zu berichten“, „soll weiterentwickelt werden“ - dabei ist noch gar nicht klar, was denn eigentlich weiterentwickelt werden soll. Ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Das erinnert mich dunkel an den Überprüfungswahn, den die letzte Bundesregierung an den tag gelegt hat. Da muss man sich wirklich fragen, ob Sie nicht doch den falschen Koalitionspartner ausgewählt haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dummerweise helfen Beschwörungsformeln so gar nicht gegen die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf. Die richtigen Lösungen für konkrete Schritte findet man bekanntlich nur, wenn man zunächst die Ursachen analysiert. Meine Kollegin Katja Kipping hat einen Satz aus Ihrem Antrag zitiert, den ich ausdrücklich teile: „Zeit ist eine Schlüsselressource“ für die Gleichstellung von Frauen und Männern und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wenn das so ist, dann müssen wir doch genau da politisch ansetzen. Ein wirklich brauchbarer Vorschlag für mehr Zeitsouveränität lag im Januar bereits auf dem Tisch: eine 32-Stunden-Woche für junge Eltern zu ermöglichen. Was hat die Große Koalition daraus gemacht? Der Vorstoß wurde in Windeseile zur persönlichen Meinung der Familienministerin degradiert, und Arbeitsgeberverbände rufen sogar den Untergang des Abendlandes aus.

Dabei geht eine Reduzierung der Erwerbsarbeitszeit genau in die richtige Richtung. In der Arbeitswelt eskalieren nämlich munter die Zeitkonflikte: Zeitstress durch ausufernde Arbeitstage, Überstunden, Mehrfachjobs, weil der Lohn einfach nicht reicht, Minijobs, Leiharbeit, befristete Verträge. Hamsterrad für die einen, null Arbeitsstunden für viele andere. Genau vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen, diskutieren wir hier über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, über Zeitsouveränität und über neue Wege der Gleichstellung.

Vereinbarkeit heißt aus meiner Sicht: Schluss mit der Kultur der langen Anwesenheit! Schluss mit Überarbeit und Wochenendarbeit! Vereinbarkeit heißt auch: Überwindung von Erwerbslosigkeit und unfreiwilliger Teilzeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Da liegt eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Umverteilung der Arbeit doch eigentlich auf der Hand. Statt immer mehr Sorge- und Pflegetätigkeiten in die Familien zu verlagern, muss die gesamte Arbeit fair neu verteilt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Antrag der Großen Koalition sind leider auch keine neuen Wege zu erkennen, um Frauen ein individuelles und existenzsicherndes Einkommen zu sichern. Frauen hängen weiter in Minijobs, Teilzeit und Niedriglohn fest. Väter müssen in langer Vollzeit arbeiten, obwohl sie sich mehr um ihre Kinder kümmern möchten.

Alle Familienformen - im Übrigen auch die, über die der Antrag schweigt - benötigen eine neue Zeitpolitik.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die heißt ganz kurz: Arbeitszeitverkürzung. Solange diese ungleiche Verteilung von Arbeitszeit und Einkommen den Alltag bestimmt, können Frauen und Männer nicht frei aushandeln, wie sie leben wollen, gibt es keine - ich weiß, dass das ein neues Modewort ist - Wahlfreiheit. Sie müssen daher ganz tapfer sein: Wahlfreiheit ist erst dann hergestellt, wenn diese Rahmenbedingungen geändert sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Frauen und Männer - immer mehr Männer - wollen weder starre noch ausufernde Arbeitszeiten. Sie wollen eine Flexibilität, die ihnen mehr Zeit zum Leben lässt, und zwar für alle Bereiche des Lebens. Sie brauchen dafür ein existenzsicherndes Einkommen, mit dem sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und das ihnen eine auskömmliche Rente sichert.

Frau Schön, Sie haben uns vorgeworfen, wenn wir eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit fordern, entspreche das dem Motto „Wünsch dir was!“ oder „Freibier für alle!“.

(Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): 20 Stunden!)

Ich will Ihnen einmal sagen: Die neue Norm, die eine reiche und gerechte Gesellschaft setzen sollte - der gesellschaftliche Fortschritt, den Frau Schwesig vorhin eingefordert hat -, würde genau in einer 30-Stunden-Arbeitswoche für alle bestehen, die die Politik wirklich durchsetzt.

(Beifall bei der LINKEN - Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): 20 Stunden haben Sie gefordert!)

Na gut, ich erkläre mich bereit, bei 30 anzufangen. Darauf können wir uns ja gemeinsam einigen.

Um zu zeigen, dass das möglich ist, möchte ich ein Beispiel der Kollegin Margareta Steinrücke von der Arbeitnehmerkammer in Bremen ausleihen und hier anführen. Sie hat nämlich festgestellt: Die Produktivität der Arbeit, also wie viel  wir pro Zeiteinheit produzieren, ist gigantisch gewachsen. In den 60er-Jahren brauchten wir im Vergleich zum Jahr 2000 für die Herstellung vieler Produkte im Durchschnitt 100 Prozent mehr Zeit. Das heißt, wenn die Herstellung eines Brotes 1960 noch 20 Minuten dauerte, brauchen wir heute nur noch 10 Minuten dafür. Bei vielen Metall- und Elektroerzeugnissen ist dieser Produktivitätszuwachs noch viel größer. Würden wir diesen Zuwachs eins zu eins umsetzen und unsere Arbeitszeit entsprechend reduzieren, dann müssten wir heute nur noch 24 Stunden in der Woche arbeiten; denn 1960 waren es noch 48 Stunden ‑ und 48 geteilt durch 2 sind 24.

(Beifall bei der LINKEN)

Daraus ergibt sich doch eine ganz einfache Schlussfolgerung: Die Unternehmen müssen einfach nur ein bisschen auf Extragewinne verzichten. Abgesehen von der gestiegenen Arbeitsproduktivität fällt nämlich auf, dass der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen stetig steigt, während die Lohnquote sinkt. Das ist eine ganz einfache Rechnung.

(Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Zu einfach!)

Wenn wir das in diesem Sinne machen würden, dann hätte Ihre schöne Überschrift wirklich einen Sinn, dann wäre nämlich Zeitsouveränität für alle drin; denn eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich ist bezahlbar. Eine Umverteilung von Arbeit zeigt für die einen den Weg aus dem Hamsterrad und für die anderen den Weg zurück in eine chancengleiche und gerechte Arbeitswelt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)