So falsch die Absetzung von "Idomeneo" ist, so wenig glaubwürdig sind die Aufgeregtheiten der Bundeskanzlerin und weiterer Vertreter der Bundesregierung und anderer Politiker - meint der Co-Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.
Im damaligen Streit um die islamfeindlichen Karikaturen in einer dänischen Zeitung beriefen sich viele auf Pressefreiheit und die Freiheit der Satire. Diese Freiheit muss allerdings dort seine Grenzen finden, wo es nur um die eindeutige Herabwürdigung des Islam geht und die Gefühle vieler Menschen islamischen Glaubens verletzt werden. Wäre in islamisch geprägten Ländern Jesus als blutdürstiger Mörder dargestellt worden, wäre die Empörung in christlich geprägten Ländern ebenso hoch ausgefallen und ebenso berechtigt gewesen.Die nun von der Berliner Intendantin Kirsten Harms aus dem Programm genommene Oper „Idomeneo“ richtet sich wohlweislich nicht gegen den Islam. Am Schluss der Oper zeigt der Kreterkönig Idomeneo die abgeschnittenen Köpfe von Poseidon, Jesus, Mohammed und Buddha.
Damit wird deutlich, dass in der Inszenierung mit allen Religionen abgerechnet wird. Über die künstlerische, provokante Darstellung ließe sich trefflich streiten, aber das kann man nur, wenn man sie auch weiterhin zeigt. Das müssen die Vertreterinnen und Vertreter aller Religionen, die sich angesprochen fühlen, auch aushalten.
Es ist daher eine falsche Reaktion, die Oper aus Angst vor Anschlägen abzusetzen, zumal sie bereits ein Jahr lang aufgeführt wurde, ohne dass es darüber erregte öffentliche Reaktionen oder gar Anschlagsdrohungen gegeben hätte. Zur Freiheit der Kunst gehört es, soziale und gesellschaftliche Konflikte auch in zugespitzter oder provokanter Form darzustellen. Sie muss allerdings die Reaktionen darauf auch auszuhalten können.
So falsch die Absetzung der Oper auch ist, so wenig glaubwürdig sind die Aufgeregtheiten der Bundeskanzlerin und weiterer Vertreter der Bundesregierung und anderer Politiker. Sie schüren permanent Ängste vor dem islamischen Terrorismus. Die Gefahren werden immer wieder dargestellt, im gleichen Atemzug wird versucht, die grundgesetzlich gebotene Trennung von Polizei und Geheimdiensten aufzuheben und die Bundeswehr auch im Innern einzusetzen. Je größer die Terrorgefahr, desto größer auch die Versuchungen der Bundesregierung, Eingriffe in Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen.
In einer wie dargestellt erzeugten gesellschaftlichen Atmosphäre der Angst vor dem islamistischen Terrorismus dürfen sich die genannten Politikvertreter nicht wundern, dass offensichtlich ein vager Hinweis des Berliner Landeskriminalamtes auf befürchtete Anschläge gegen die Opernaufführung ausreicht, dass eine Intendantin die Inszenierung aus dem Programm nimmt und vor der notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung zurückweicht.
Sie spürt Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und meint sich so verhalten zu müssen. Man kann ihre Entscheidung - wie ich - kritisieren, aber man muss verstehen, in welcher Atmosphäre sie getroffen wurde. Terroristen dürfen einen Erfolg nicht verbuchen, Freiheits- und Bürgerrechte einschließlich der Freiheit der Kunst bei uns ernsthaft zu gefährden.
von Gregor Gysi
Die Welt, 27. September 2006