KOMMENTAR / Im Nahen Osten haben deutsche Soldaten nichts zu suchen
Mit Geschichte müssen wir verantwortungsvoll umgehen. Dennoch hat der Deutsche Bundestag in der vergangenen Woche gegen die Stimmen der Linken, der Mehrheit der FDP-Fraktion und einiger anderer Abgeordneter die Beteiligung von 2.400 Soldaten an einer UN-Mission zur Sicherung des Waffenstillstands nach dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon beschlossen. Beide Seiten - Befürworter wie Gegner - beriefen sich dabei gleichermaßen auf die historische Verantwortung wegen der millionenfachen Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten, kamen aber zu genau entgegengesetzten Schlussfolgerungen.Wer sich an einer solchen UN-Mission beteiligt, sollte neutral sein, um gegenüber beiden Konfliktparteien auch die gleiche Glaubwürdigkeit zu dokumentieren. Die Bundesregierung ist jedoch keineswegs neutral - sie will und kann es auch nicht sein. Sie hat zu Recht die Raketenattacken der Hisbollah-Milizen gegen die Zivilbevölkerung Israels verurteilt, allerdings deutlich weniger Distanz zur überzogenen israelischen Reaktion beim Angriff auf den Libanon gezeigt. Deutschland soll nun mit seinen Marinekontingenten Waffenlieferungen an die Hisbollah verhindern, will aber gleichzeitig Waffen - darunter atomwaffentaugliche U-Boote - an Israel liefern.
Es gab und gibt gute Gründe, dass deutsche Soldaten im Nahen Osten nichts zu suchen haben. Sie ergeben sich auf der einen Seite aus der Geschichte und der Verantwortung vor dem Hintergrund der einzigartigen Verbrechen der Nazis, die zur Gründung des Staates Israel führten. Deutschland ist aber gleichfalls gegenüber den Palästinensern verpflichtet, die einen Teil der Folgen des Holocaust zu tragen haben, ohne dafür verantwortlich gewesen zu sein.
Beide Seiten hegen konträre Erwartungen an den Einsatz deutscher Soldaten und bewerten ihn unterschiedlich in den historischen Zusammenhängen. Der Linken wurde von Jürgen Trittin (Grüne) und Gerd Weißkirchen (SPD) in der Debatte vorgehalten, dass die italienischen Kommunisten der Entsendung ihrer Soldaten in den Libanon zugestimmt hätten. Aber sie übersehen, dass Italien eine andere Geschichte als Deutschland hat. Die implizierte Auffassung einer gewissen "Normalität" - Deutschland entsende UN-Blauhelme wie andere Staaten auch - ist schon deshalb absurd, weil über Soldaten und Geschütze Normalität nicht herzustellen ist.
Die Bundesmarine soll vor der libanesischen Küste Waffenlieferungen in den Libanon unterbinden. Auf die Entsendung von Bodentruppen wurde aber bewusst verzichtet. Das heißt, die "Normalität" beinhaltet die Anormalität des Einsatzes der Bundeswehr auf einem Schauplatz, bei dem man hofft, dass nichts passiert.
Der deutsche Beitrag zum Friedensprozess im Nahen Osten sollte darin bestehen, Israel und Libanon jedwede humanitäre Hilfe zu gewähren, wobei in der Zukunft die Verursacher der Kriegsschäden auch für die Wiedergutmachung zu bezahlen hätten.
Die besonderen Beziehungen zu Israel und die guten Beziehungen zu den meisten arabischen Staaten prädestinieren unser Land, Motor eines Nahost-Friedensprozesses zu sein. Die Bundesregierung sollte daher eine Nahostkonferenz unter dem Dach der Vereinten Nationen und unter Einbeziehung aller Seiten der Konflikte anbieten, die in Berlin stattfinden könnte.
Dem wurde von der Bundesregierung entgegen gehalten, dass erst die Beteiligung der Bundeswehr zur Friedenssicherung die Voraussetzung für einen Friedensprozess schaffen würde. Das sind Ausflüchte, denn dieser Bundeswehreinsatz wäre - wie für über 170 andere Staaten auch - verzichtbar. Mit der Entsendung seiner Kriegsschiffe wird Deutschland nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Konflikts.
Die Gedanken- und Gefühlswelt in Bezug auf Israel und die arabischen Länder ist in meiner Generation unklar, wirr und widersprüchlich. Der Versuch, dies 20-jährige Soldaten austragen zu lassen, ist und bleibt ein Fehler.
Gregor Gysi
Freitag, 29. September 2006