Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sind wir nach 35 Jahren tatsächlich ein geeintes Land? 35 Prozent aller Deutschen sagen, wir sind weitgehend zusammengewachsen. Aktuell sagen das im Osten aber nur noch 23 Prozent, Tendenz abnehmend. Staatliche Einheit, sanierte Häuser, Straßen- und Schienenwege machen eben noch keine innere Einheit aus. Wir sind äußerlich vereinigt, aber innerlich noch nicht, weder bei der Wirtschaftskraft noch beim durchschnittlichen Einkommen, auch nicht beim vererbten Vermögen – der Umfang ist dabei im Westen neunmal so hoch wie im Osten – und erst recht nicht beim Eigentum an Immobilien und Unternehmen. Zwei Drittel der Immobilien in ostdeutschen Großstädten gehören Bürgerinnen und Bürgern aus dem Westen unserer Republik. – So viel zu den Fakten.
Auch bei der Demokratiezufriedenheit ist es nicht anders. Farbliche Umfrage- und Wirtschaftskarten lassen die alten Grenzen deutlich wiedererkennen. Wenn 61 Prozent aller Deutschen – 61 Prozent! – heute das Trennende im Vordergrund sehen, gibt uns das zu denken. Es ist keine subjektive Empfindung, die man mit Schönwetterreden über die Beglückung durch die Einheit wegreden kann.
Diese Haltung resultiert aus Realitäten tiefgespaltener Lebensverhältnisse. Die fünf neuen Bundesländer blieben nach 1990 ein Beitrittsgebiet, das wenig an Erfahrungen einbringen durfte, sich dagegen in allen Bereichen massiv anzupassen hatte. Damit war auch die Demütigung vieler Ostdeutscher verbunden: gebrochene Erwerbsbiografien, mangelndes Eigenkapital, massive Abwanderung waren fortwirkend Realität in den 90ern. Diese Brüche wirken aber weiter, und sie verstärken sich durch neue Verschlechterungen der Lebensverhältnisse, die von rechts gezielt ausgenutzt werden. Hier müssen wir sagen: Stopp!
(Beifall bei der Linken sowie bei Abgeordneten der SPD)
Heute entfalten sich die politischen Folgen dieser Entwicklung sogar im gefährlichen Misstrauen gegen unsere Demokratie. Wann begreifen Sie es endlich? Auch wir wissen, wie viele Bemühungen es zur Entwicklung im Osten gegeben hat. Aber wen von den Ostdeutschen haben sie denn wirklich erreicht? Wer hat davon wirklich profitiert? Hat sich die Schere zwischen West und Ost wirklich verkleinert? Haben sich die Lebensverhältnisse in 35 Jahren angeglichen? Wir sagen: Nein. Die jeweilige Bilanz der letzten Bundesregierungen bei der weiteren Verwirklichung der Einheit sieht mager aus. Herr Merz, während Sie mit den ostdeutschen Länderchefs Investitionskonferenzen verabreden, fährt Volkswagen im Zwickauer Werk die Produktion runter, bei Opel in Eisenach und im mitteldeutschen Chemiedreieck drohen neue Einbrüche.
Nach 35 Jahren ist es höchste Zeit für einen Wandel hin zu mehr Respekt für ostdeutsche Biografien und Realitäten. Wer ein geeintes Land regieren will, darf die Spaltung der Lebensverhältnisse – Frau Präsidentin, ich komme zum Ende – durch Tun und Unterlassen nicht weiter verschärfen: weder zwischen Ost und West noch zwischen Nord und Süd, nicht zwischen Stadt und Land und vor allem nicht zwischen Reich und Arm, wie Sie es tun.
Vielen Dank.
(Beifall bei der Linken)