Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1952 gab es die berühmte Stalin-Note, mit der dieser vorschlug, gesamtdeutsche, international kontrollierte geheime Wahlen abzuhalten, und zwar unter einer Bedingung, nämlich dass Deutschland so neutral würde, wie es Österreich geworden ist. Das lehnte Adenauer sofort ab, weil ihm die Westintegration der alten Bundesrepublik wichtiger war als die Einheit; das muss man einfach sagen.
(Dr. Hendrik Hoppenstedt [CDU/CSU]: Das ist totale Geschichtsklitterung!)
Die drei westlichen Regierungen – USA, Großbritannien und Frankreich – haben viel länger darüber nachgedacht, sich dann aber entschieden: lieber die Zuständigkeit für die alte Bundesrepublik durch drei zu sichern als eine Gesamtzuständigkeit durch vier.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ein SED-Mitglied erklärt mir jetzt, dass Adenauer schuld war! Das fehlt noch!)
Das mag ja auch nachvollziehbar sein. Trotzdem spielte es eine Rolle. Vielleicht hätte es dann den 17. Juni gar nicht gegeben.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Unfassbar! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU – Zurufe von der AfD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– Na, wenn wir vereinigt gewesen wären? – Aber die Proteste in Berlin richteten sich vor allem gegen Normerhöhungen und schlechte Arbeitsbedingungen. Das Politische spielte zunächst eher eine geringere Rolle. Aber es gab auch einen deutlichen Widerspruch. Die Regierung der DDR war wirklich antifaschistisch aufgebaut, behauptete aber, die Gesamtbevölkerung zu vertreten, was zu der Zeit noch gar nicht möglich war. Diesen Widerspruch haben sie auch nicht benannt.
Der 17. Juni 1953 war der Anfang einer Reihe von Ereignissen in den staatssozialistischen Ländern, in denen die sowjetische Führung und die ihr untergeordneten Führungen dieser Länder oder zumindest wesentliche Teile davon deutlich machten, dass sie keine Abstriche am staatssozialistischen Modell zuließen, und dies auch mit Waffengewalt durchsetzten.
(Stephan Brandner [AfD]: Das betrauern Sie doch heute noch, Herr Gysi, oder?)
Die nationale Souveränität spielte dabei keine Rolle. Letztlich wurde in Moskau entschieden, mit welchen Mitteln 1956 in Ungarn, 1968 in der ČSSR, 1980 in Polen sowie 1953 Versuche, Sozialismus und Demokratie zu verbinden, unterbunden wurden. Das Proletariat, dem das sowjetische Modell doch dienen sollte, begehrte auf, und mit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste wurden demokratische Lösungsmechanismen strikt der Allmacht der herrschenden Partei unterworfen.
Natürlich reagierte man in der Bundesrepublik Deutschland und in Westberlin scharf gegen die gewaltsame Niederschlagung der Proteste am 17. Juni. Aber mir ist aufgefallen, dass die Proteste in den USA, in Großbritannien und in Frankreich, auch in anderen Ländern, eher geringer ausfielen. Ich habe überlegt, woran das liegt. Ich glaube, 1953 billigten die dem deutschen Volk insgesamt noch kein Selbstbestimmungsrecht zu, weil die Zustimmung zu Hitler und zu seinen Verbrechen während der Nazizeit viel zu groß war. Ganz anders als 1953 sah die Reaktion dieser Länder 1956 in Ungarn und natürlich 1968 in der ČSSR aus.
Wenn wir heute der Menschen gedenken wollen, die damals mutig für eine demokratische DDR einstanden und in gewissem Sinne den Grundstein für den Aufbruch 36 Jahre später legten, der in die deutsche Einheit mündete und diese überhaupt erst ermöglichte, sollten wir uns immer wieder fragen, ob wir diesem Erbe in all unserem Tun gerecht werden.
Ich höre auf. – Wir müssen über Volksentscheide und mehr Ehrlichkeit in der Politik nachdenken.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wie wär’s mal mit „Sorry!“? – Zuruf der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Mein letzter Satz an Sie. Sie sagen: Nie wieder Sozialismus! – Ich sage: Nie wieder Nazidiktatur!
(Beifall bei der Linken sowie bei Abgeordneten der AfD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Nie wieder Sozialismus!)