Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schade, dass die Präsidentin gegangen ist; ich wollte sie über einen Irrtum aufklären. Der erste gesamtdeutsche Bundestag wurde nicht am 20. Dezember 1990 konstituiert; den gab es schon seit dem 3. Oktober 1990, weil wir als ostdeutsche Abgeordnete schon einzogen.
(Lars Rohwer [CDU/CSU]: Nee, aber nicht direkt gewählte Abgeordnete!)
Allerdings war es der erste gesamtdeutsch gewählte Bundestag; das stimmt.
(Lars Rohwer [CDU/CSU]: Ja, genau! Deswegen war das dann auch das richtige Datum! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Mit Wahlen hatten Sie’s nicht so!)
Nicht die CDU/CSU, sondern die SPD – ich muss Sie daran erinnern – bestand auf einem Wahlrecht, das die PDS ausschließen sollte.
(Stephan Brandner [AfD]: Das wäre gut gewesen! Da wäre uns viel erspart geblieben!)
Sie wollte sofort für ganz Deutschland die 5-Prozent-Hürde und setzte sich durch. Viele wandten sich an das Bundesverfassungsgericht – auch wir – und waren erfolgreich. Die SPD-Vertreterin dort sagte, das 5-Prozent-Gesetz dürfe nicht geändert werden, weil ansonsten die PDS einzöge, was unbedingt verhindert werden müsse.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Besser wär’s gewesen!)
Ich habe lange im Grundgesetz gesucht, woraus sich das ergeben sollte, habe aber nichts gefunden.
Das Bundesverfassungsgericht legte dann zwei Wahlgebiete fest. Inzwischen hat sich die SPD an uns gewöhnt;
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Derya Türk-Nachbaur [SPD]: Na ja!)
ich sage mal: die Grünen sowieso.
(Stephan Brandner [AfD]: Und kuscheln miteinander!)
Und bei der CDU/CSU würde ich sagen: Es geht langsam, so Schritt für Schritt, auch in diese Richtung vorwärts.
(Ronald Gläser [AfD]: Können wir bestätigen!)
Aber damals gab es Wahlergebnisse, von denen die Parteien heute nicht mal mehr träumen können:
(Zuruf von der AfD: Wir schon!)
CDU/CSU 43,8 Prozent, bei der Wahl 2025 28,6 Prozent, die SPD 33,5 Prozent, nun 16,4 Prozent,
(Stephan Brandner [AfD]: Aufgerundet!)
die FDP 11 Prozent, jetzt 4,3 Prozent.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Sagen Sie noch was zur Aufarbeitung der SED-Diktatur!)
Und die westdeutschen Grünen scheiterten damals mit 3,8 Prozent am Einzug; das Bündnis 90 zog ein.
(Stephan Brandner [AfD]: AfD 0 Prozent, heute 30 Prozent!)
Aber inzwischen haben sich die Grünen deutlich erholt.
Wir hatten auch eine gegenteilige Entwicklung; denn wir hatten zwar im Osten mehr als 5 Prozent, aber gesamtdeutsch nur 2,4 Prozent und landeten jetzt bei 8,8 Prozent. Das ist ja nicht schlecht. So.
(Beifall bei der Linken sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lars Rohwer [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zur Aufarbeitung der DDR! Das wäre sehr interessant!)
Aber was sich damals im Bundestag alle nicht vorstellen konnten – alle, von der CSU bis zu uns –: dass wie gegenwärtig eine rechtsextreme Partei im Bundestag Platz nehmen wird.
(Stephan Brandner [AfD]: Wen meinen Sie denn?)
Das ist aber passiert: durch Sie von der AfD. Und das wissen Sie auch.
(Stephan Brandner [AfD]: Ach, Herr Gysi! Was war denn mit dem IM „Notar“? Sagen Sie doch mal was dazu! Wo sind das SED-Vermögen und die Milliarden versteckt? – Zuruf des Abg. Sven Wendorf [AfD])
Der Empfang der PDS und auch meiner Person im Bundestag war extrem ablehnend und unfreundlich, obwohl wir Interessen von Menschen aus dem Osten vertraten, die unbedingt vertreten werden mussten – was auch keine andere Partei konnte.
Es gab für mich unterschiedliche Behandlungen: wenige, die sachlich zu mir waren, zum Beispiel Heiner Geißler, Wolfgang Schäuble und Helmut Kohl, viele, die mich innerhalb und außerhalb des Plenums hassten – meine Leistung besteht darin, nicht zurückgehasst zu haben –, und eine größere Gruppe, die im Plenum schärfste Ablehnung gegen mich äußerte,
(Stephan Brandner [AfD]: Das kennen wir auch!)
um mir draußen zu erzählen, dass sie es nicht so gemeint hätten. Die mochte ich am wenigsten.
(Heiterkeit und Beifall bei der Linken sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es ist wirklich interessant: Mit der Konstituierung des ersten gesamtdeutsch gewählten Bundestages wurde der Einheitsprozess auch parlamentarisch besiegelt. Zu denken sollte uns vor dem Hintergrund der aktuellen Gefährdung der Demokratie auch geben, dass damals im Osten innerhalb eines Dreivierteljahres, also von März bis Dezember, die Wahlbeteiligung von 93 Prozent auf 74 Prozent fiel.
Mit der Organisation der Einheit als Beitritt ist es nicht gelungen, den urdemokratischen Impuls,
(Stephan Brandner [AfD]: …, der von der SED ausging, der urdemokratischen SED!)
den die Wendeereignisse in der DDR darstellten, für das gemeinsame Deutschland zu nutzen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nicht nur an die runden Tische.
Eine weitere Erfahrung haben viele Ostdeutsche mit dem ersten gesamtdeutsch gewählten Bundestag gemacht,
(Zuruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD])
die durchaus einer der Ausgangspunkte für die hohe im Osten verbreitete Skepsis gegenüber der etablierten Politik und Demokratie ist.
(Stephan Brandner [AfD]: Dass Sie sich nicht schämen für so eine Rede, Herr Gysi!)
Dieser erste gesamtdeutsch gewählte Bundestag hat keine acht Wochen nach seiner Konstituierung massive Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit beschlossen, die Helmut Kohl im Wahlkampf noch ausgeschlossen hatte.
(Stephan Brandner [AfD]: Gibt’s doch gar nicht, so was!)
Hat sich das wirklich geändert? Friedrich Merz hat im Wahlkampf gesagt, an der Schuldenbremse werde er nicht einen Millimeter verändern; sie sei absolut fest etc., um wenige Tage nach der Wahl das genaue Gegenteil trickreich mit dem alten Bundestag zu organisieren.
(Stephan Brandner [AfD]: So sind sie, die Altparteien!)
Wenn wir heute also den 35. Jahrestag der Konstituierung dieses Bundestages nutzen, so sollten wir mehr Respekt gegenüber den Wählerinnen und Wählern,
(Dr. Götz Frömming [AfD]: AfD-Wählern!)
also gegenüber dem im Grundgesetz verankerten Souverän an den Tag legen. Nur so werden wir unserer Verantwortung für die Demokratie gerecht.
(Beifall bei der Linken sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Wählerinnen und Wähler, besonders auch jene im Osten, haben aufgrund ihrer Erfahrungen ein feines Gespür für fehlende Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit in der Politik.
(Stephan Brandner [AfD]: Deshalb wählen auch 40 Prozent AfD!)
Es muss aufhören, in Wahlkämpfen etwas zu versprechen, was nicht gehalten wird, oder falsche Beweggründe für politische Entscheidung zu benennen – wenn nicht, wird die Rechtsaußenseite noch mehr politisches Kapital daraus schlagen.
(Zuruf des Abg. Stephan Brandner [AfD])
Ich habe in meiner Rede als Alterspräsident zur Eröffnung unseres Bundestages auf Fehler bei der Herstellung der Einheit hingewiesen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Sagen Sie noch was zum Unrechtsstaat! Wie war das denn?)
Das betrifft die Anerkennung von Rentenansprüchen, von Berufsabschlüssen, die Gleichstellung der Geschlechter, die Kinderbetreuungseinrichtungen und auch eigentumsrechtliche Fragen; ich erinnere nur an „Rückgabe vor Entschädigung“.
Heute sollte der Jahrestag Anlass sein, gemeinsam die Attraktivität der Demokratie und des Rechtsstaates zu erhöhen, indem wir endlich auch auf Bundesebene Volksentscheide ermöglichen
(Stephan Brandner [AfD]: Gute Idee! Wir sind dabei! – Nicole Hess [AfD]: Wir sind dabei! – Zuruf des Abg. Ates Gürpinar [Die Linke])
und die Justiz nicht nur für Betroffene Fristen setzt, sondern sich auch selbst an Fristen halten muss.
(Beifall bei der Linken sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Mir war es vergönnt, in diesen 35 Jahren, seit dem 3. Oktober 1990, weitgehend im Bundestag mitzuwirken.
Wir haben die Aufgabe, die Interessen der gesellschaftlichen Mehrheitsentscheidungen umzusetzen und die Interessen von Minderheiten so weit wie möglich zu schützen – letzter Satz oder vorletzter –,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der Linken, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
auch und gerade um denjenigen im Aus- und Inland, –
– die nach autoritären Verhältnissen streben, nicht noch mehr Raum zu geben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stephan Brandner [AfD]: Ihre Zeit ist schon lange vorbei, Herr Gysi!)
Das Erbe der 35 Jahre mit dem ersten gesamtdeutsch gewählten Bundestag, –
– das seinen parlamentarischen Rahmen im vereinten Deutschland fand, ist jedenfalls mit Sicherheit nicht die Stärkung von Antidemokraten wie der AfD.
Danke.
(Beifall bei der Linken sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

