Zum Hauptinhalt springen

Experten verreißen Rentenpolitik

Archiv Linksfraktion - Im Wortlaut,

Die Bundesregierung wird in dem von ihr selbst in Auftrag gegebenen Fünften Altenbericht weitaus schärfer kritisiert als bisher bekannt. Wissenschaftler sehen in den Reformen einen Grund für mehr Altersarmut.

In dem unveröffentlichten Werk, das dem Familienministerium bereits Ende August 2005 übergeben wurde, heißt es nach Informationen der FTD: "Die in jüngster Zeit beschlossenen Maßnahmen führen dazu, dass die Einkommensverteilung im Alter deutlich ungleicher werden wird, die Gefahr von Altersarmut zunimmt und die Einkommensbelastung für die Altersvorsorge für lange Zeit durch die Reformmaßnahmen steigen wird." Angesichts des "drastischen Niveauabbaus" werde die gesetzliche Rente deshalb "ihre Legitimation zunehmend verlieren".

Auch wenn sich die Kritik auf die Vorgängerregierung bezieht, ist sie doch für die große Koalition - vor allem für die SPD - unangenehm: Derzeit bereitet das schwarz-rote Bündnis weitere Einschnitte wie den so genannten Nachholfaktor und die Rente mit 67 Jahren vor.

Erst nach der Sommerpause wird beraten

Ursprünglich sollte der Bericht im April veröffentlicht werden, zuletzt war von "Frühsommer" die Rede. Der CSU-Familien- und Seniorenpolitiker Johannes Singhammer, sagte nun: "Der Bericht wird erst nach der Sommerpause beraten."

Ein Sprecher von Familien- und Seniorenministerin Ursula von der Leyen (CDU) begründet die Verzögerung mit den "zahlreichen Projekten" in der Familienpolitik. Die Stellungnahme der Regierung werde derzeit formuliert und dann dem Parlament mit dem Bericht übergeben. Einen Zeitpunkt für die Veröffentlichung wollte er nicht nennen.

Verspätung ist Taktik

Die Linksfraktion im Bundestag vermutet dagegen Taktik hinter der Verspätung. "Die Regierung betreibt eine bewusste Zurückhaltung von Fakten, um die eigene Politik durchsetzen zu können. Das ist ein Skandal", sagt Fraktionsvize Klaus Ernst. Die Kommission nehme die Politik der vergangenen Jahre auseinander. "Wir sehen, es gibt die Gefahr massiver Altersarmut", so Ernst. Er fordert, den Bericht sofort vorzulegen.

Vor allem das Kapitel zur Einkommensentwicklung im Alter, geschrieben vom Bremer Sozialökonomen Winfried Schmähl, geht mit der Rentenpolitik der vergangenen Jahre hart ins Gericht. "Bei der eingeleiteten Politik sind gravierende sozialpolitische Probleme zu erwarten", kritisiert Schmähl. Er verweist auf die Kürzungen des Rentenniveaus, die das "Leistungs-Gegenleistungs-Verhältnis gefährden". Angesichts immer geringerer Leistungen gerate die gesetzliche Rente in eine "Legitimationskrise".

Keine lückenlose Arbeitsbiografie mehr
Hinzu komme, dass viele Versicherten die Annahmen der Regierung über Beschäftigung und Verdienste nicht mehr erfüllten. So berücksichtigten die Reformen nicht, dass viele Beschäftigte heute nicht mehr durchgängig 45 Jahre arbeiteten, sondern immer wieder Zeiten von Arbeitslosigkeit oder Selbstständigkeit ohne ausreichende Altersvorsorge überbrücken müssten. Die Folge seien weiter sinkende Rentenansprüche und die Gefahr von Altersarmut, so Schmähl.

Gespalten ist die Runde bei der Rente mit 67. Der Arbeitsmarktökonom Gerhard Bosch lehnt die längere Lebensarbeitszeit ab und verweist auf die schlechten Chancen älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt. Lediglich 41,4 Prozent der Erwachsenen zwischen 55 und 64 Jahren hätten einen Job. Werde die Rente mit 67 nicht "bildungspolitisch unterfüttert, läuft dies nur auf Rentenkürzungen hinaus", kritisiert er. Schmähl votiert dagegen für die Rente mit 67, allerdings nur, wenn im Gegenzug das Rentenniveau weniger stark gesenkt werde. Um die Rentenkassen zu entlasten, schlägt er alternativ Einschnitte in die Hinterbliebenenrenten vor.

In den Presseerklärungen der damaligen Familienministerin Renate Schmidt (SPD) zum Altenbericht gingen die Kritik und die Empfehlungen für eine" alternative Rentenpolitik" komplett unter. Inzwischen wächst auch unter den Experten der Frust. "Die Bundesregierung tut sich mit dem Bericht ziemlich schwer", heißt es hier.

von Timo Pache, Berlin

Financial Times Deutschland, 26. Mai 2006